Der Taschenrechner, die Atombombe und ChatGPT

Die einen vergleichen ChatGPT mit dem Taschenrechner (ChatGPT geht an die Uni, FAZ vom 20. Mai), die anderen mit der Atombombe (KI wirkt atomar, FAZ vom 25. Mai). Auf der einen Seite stehen engagierte Lehrer, denen die FAZ Das plaudernde Klassenzimmer, FAZ vom 22. Mai) ein Podium geboten hat, um ihre Ideen vorzustellen, wie man die App sinnstiftend in den Lernprozess integrieren kann. Für sie ist die ganze Aufregung um die App übertrieben, sie sind sicher, dass sich bald Normalität beim Umgang mit dieser technischen Erfindung einstellen wird.

Auf der anderen Seite befinden sich etliche der Chefs von Open AI, so deren Mitgründer Greg Brockman und Ilya Sutskever sowie der CEO Sam Altman. Sie warnen vor „existentiellen Bedrohungen“ für die Menschheit. Auf Tagesschau.de findet sich am 30.05. der folgende Satz aus ihrer Verlautbarung: „Das Risiko einer Vernichtung durch KI zu verringern, sollte eine globale Priorität neben anderen Risiken gesellschaftlichen Ausmaßes sein, wie etwa Pandemien und Atomkrieg.“ Und sie schlagen vor, eine Kontrollinstanz für superintelligente KI-Systeme nach dem Vorbild der IAEA zu schaffen. Obwohl sie darauf hoffen können, mit ihrem Produkt wie Zuckerberg, Gates oder Musk in die Kaste des globalen Geldadels aufzusteigen, haben sie zumindest verbal umgeschwenkt und warnen vor den Resultaten ihres Entwicklerehrgeizes. Unterschiedlicher dürfte eine Erfindung kaum je beurteilt worden sein.

Ich war Lehrer und habe mich schon gelegentlich öffentlich zu den Folgen des Umbaus unserer Bildungsinstitutionen durch Digitaltechnik geäußert, also das, was Jörg Dräger vor einigen Jahren die „digitale Bildungsrevolution“ genannt hat. Aber erst das, was jetzt passiert, hat revolutionäre Züge – es stellt zweifellos die Diskussion um WLAN, Tablets für jeden Schüler oder Fortbildungsangebote für Lehrkräfte, wie wir sie besonders nach den Corona-Lockdown-Erfahrungen geführt haben, in den Schatten.

Ich zweifle nicht daran, dass sehr engagierte Lehrer und Lehrerinnen Wege und Mittel finden werden, um auch diese Technik in ihrer Anfangsphase in den Unterricht zu integrieren. Und genau so wenig daran, dass sehr begnadete Schüler die App sinnvoll einsetzen werden, um damit schneller und effektiver zu lernen. Die Elite der Heranwachsenden dürfte profitieren.

ChatGPT ruiniert das Motivationsgefüge

Die technikaffinen engagierten Lehrer, die Uwe Ebbinghaus vorstellt, erzählen uns, dass es Schüler sehr motivierend fänden, die Schwächen zu ermitteln, die in den heute noch unzulänglichen Antworten der Monster-App (Version 3) zu finden seien. Wenn Version 7 oder gar 10 erst mal auf dem Markt ist, wird man solche Fehler allerdings nicht mehr so leicht finden können und die Motivation wandelt sich in Frustration. Der Wettkampf zwischen jugendlichem Pfiffikus und ChatGPT ist dann einfach nur noch unfair. Allein gut ausgebildete Experten werden in der Lage sein, mit der App mitzuhalten. Insofern finde ich dieses Rezept meines Kollegen Patrick Bronner doch sehr kurzsichtig. Für die nächsten zwei Jahre mag es noch funktionieren. Aber die sind schnell rum. Auf keinen Fall sind solche in sich sinnvollen Unterrichtsideen, wie er sie vorgestellt hat, eine Antwort des Bildungssystems auf ChatGPT.

Die langfristig entscheidende Frage ist nämlich: wie kann ich in Zukunft einen jungen Menschen motivieren, den mühsamen Prozess des Lernens willig auf sich zu nehmen, wenn er selber bald bessere Hausarbeiten, Facharbeiten und Übersetzungen in Echtzeit aus dem Netz herunterladen kann, als er sie selber je erstellen könnte? Das macht süchtig. Vermutlich, hoffentlich gibt es sehr disziplinierte Schüler, die dieser Sucht widerstehen können – und aus ihnen wird sich in Zukunft unsere geistige Elite rekrutieren. Aber Schulklassen bestehen nicht nur aus solchen Lichtgestalten, und deshalb muss gefragt werden: Was passiert in der Breite?

Was passiert in der Breite, wozu die Mühe?

Ich fasse dafür nur einen einzigen Parameter ins Auge – der fürs Lernen allerding der entscheidende ist. Meine These: ChatGPT ruiniert das Motivationsgefüge des herkömmlichen Unterrichts. Motivation ist das Rückgrat des Lernprozesses – das sagt nicht nur Abraham Maslow. Bin ich nicht motiviert, dann fällt es mir schwer, ist es mir vielleicht gar nicht möglich, etwas in angemessener Zeit zu erlernen.

Jetzt lese ich in der FAZ, wie ein Oberstufenschüler die Verbreitung von ChatGPT beschreibt: „Wir, also alle, die keine Streber oder naiv sind, nutzen es für Hausaufgaben, größtenteils.“ (Jede Lehrkraft muss sich mit ChatGPT befassen. FAZ vom 18. April) Und wenn es jetzt bereits – in diese Richtung gehen die Schätzungen für die älteren Schüler – 60 bis 80 % von ihnen sind, die sich den Mühen der Hausaufgaben mindestens zum Teil entziehen, werden es bald auch die jüngeren sein und schließlich so gut wie alle. Zu verlockend ist es, die App Hausaufgaben oder Facharbeiten schreiben zu lassen – denn es ist sicher angenehmer, eine Netflixserie zu sehen, als Material zusammenzusuchen, eine gute Gliederung zu erstellen und Zitate zu verifizieren.

Muss das Angebot von ChatGPT nicht für jeden ehrlichen Schüler vollkommen demoralisierend sein? Wird er sich nicht tatsächlich wie ein Streber vorkommen oder sogar für jemanden, der seine Energie völlig sinnlos für etwas verwendet, das die Maschine besser kann? Hat der oben zitierte Schüler nicht recht? Wozu noch all die Mühen?

Vor allem aber – und das ist das Entscheidende – werden die meisten Schüler immer stärkere Zweifel bekommen, ob sich Lernen überhaupt noch lohnt, wenn in unzähligen Berufsfeldern die Kompetenzen, die man sich in der Schule bisher angeeignet hat, gar nicht mehr abgefragt werden, da die ihnen entsprechenden Leistungen von der App bereitgestellt werden. Natürlich wird man fürs Erste immer noch kritisch überprüfen müssen, was die App da jeweils vorgeschlagen hat, und dafür muss man etwas von der Sache verstehen. Aber zwischen Überprüfen und Erstellen ist doch ein erheblicher Unterschied. Mit geistigen Routinearbeiten wird man kein Geld mehr verdienen können. Auf die intellektuellen Kompetenzen des Mitarbeiters kommt es offensichtlich immer weniger an. Das muss früher oder später für jeden halbwegs schlauen Jugendlichen wie ein Hammer wirken, der seine Berufspläne ganz schön durcheinanderbringt.

Bruch der Motivationsstruktur

Der große Unterschied zur vor-digitalen Welt besteht auch darin, dass die Qualität der eigenen Gedanken und Erarbeitungen früher gerade nicht just in time mit optimalen Lösungen abgeglichen werden konnte. Ein Lehrer musste her, der die Kompetenz hatte, die Leistung zu bewerten, dessen Lob freute einen, dessen Tadel fürchtete man. Aber diese Funktion werden Lehrer künftig immer weniger haben. Sie werden einerseits zu Detektiven, die jeder besseren Arbeit misstrauen – und da man hört, dass die App sogar in der Lage ist, ein paar kleine Fehler einzubauen, um die Arbeit unverdächtig erscheinen zu lassen, wird das ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen. Misstrauen wird das Schüler-Lehrer-Verhältnis vergiften. Immer öfter werden Lehrer denken: das ist doch nicht von diesem Schüler, so schreibt der doch sonst nicht. Und genau so oft wird er sich fragen: wie soll ich das hieb- und stichfest beweisen? Und wird am Ende den Betrug durchwinken, statt sich auf eine unangenehme Diskussion über Noten einzulassen.
Andererseits muss jeder Schüler, um mangelnde Fähigkeiten eines Lehrers bloßzustellen, der ihm nicht die Bestnote gegeben hat, nur unter der Bank eine Chat-generierte Fassung des gerade behandelten Themas abrufen, um zu beweisen, dass das, was der Pauker da vorne an der Tafel behauptet, mitnichten dem entspricht, was der Große Bruder ausgespuckt hat. Dann steht der Lehrer dumm da. Für jede auch nur etwas schlechtere Note muss er in Zukunft damit rechnen, dass ihm hinterrücks (während er etwas an die Tafel schreibt) Inkompetenz nachgewiesen wird.

Die App bricht der Schule, wie sie heute existiert, das Rückgrat. Es hat in der Geschichte der Bildungseinrichtungen noch nie eine Erfindung gegeben, die so infam die gesamte Motivationsstruktur des Lernsystems in Frage gestellt hat wie diese Atombomben-App – um mich hier deutlich zu outen. Wir ziehen gerade eine Generation von Jugendlichen auf, die eine Zeit lang ihren Lehrern noch vorgaukeln kann, dass das, was ihnen die App geschenkt hat, ihre Leistung sei, und bald nicht mehr wissen, warum sich Lernen überhaupt noch lohnen soll. Eine Zeit lang halten sie sich noch mit Unehrlichkeit über Wasser, dann aber weiß es jeder, wer der Urheber der abgelieferten „Leistungen“ ist – und die Schule muss sich völlig neu erfinden.

Die häufig nicht mehr zu übersehende Diskrepanz zwischen den schriftlichen Leistungen bei Klassenarbeiten und Tests, bei denen die Übungsdefizite durchschlagen werden, und den so genannten „sonstigen Lernleistungen“ – worunter beispielsweise selbst erstellte Arbeiten fielen, die in den letzten Jahrzehnten einen immer größeren Anteil an der Gesamtnote bekamen, – wird dazu führen, dass diese für die Notenfindung kaum oder nicht mehr herangezogen werden können. Schon jetzt berichten mir bekannte Lehrerinnen, dass sie die freundliche Praxis eingestellt hätten, nach der ein Schüler, der etwa einen Test in den Sand gesetzt hat, seine Note zumindest etwas aufbessern kann, indem er daheim eine freiwillige Ausarbeitung zu einem Unterrichtsthema vorbereitet.

Eigeninitiative vs. Misstrauen

Am schlimmsten trifft es die Schulen, die in reformpädagogischer Absicht erhebliche Teile des Unterrichtsgeschehens aus den Klassenzimmern hinausverlegt haben, die auf Eigeninitiative setzen, in denen Schüler selbständig oder in Gruppen irgendwelche Projekte erstellen. Alles, was in Zukunft dem Kontrollblick des Lehrers entzogen ist, der überall nicht deklarierte digitale Fremdbeteiligung wittern muss, ist schon heute nicht mehr bewertbar und damit leider sinnlos. ChatGPT holt die ausschwärmenden Welterkunder wieder zurück in die langweiligen Klassenzimmer. Das Meta-Lernziel Selbständigkeit etwa der Montessori-Schulen steht zur Disposition.

Aber was wäre denn daran so schlimm, wenn man in Zukunft noch viel häufiger als heute ein KI-System nach der Lösung für ein Problem fragen würde? Im Einzelfall sicher nichts – aber es würde, wenn es zur Regel wird, dazu führen, dass die Menschheit früher oder später nur noch im eigenen Saft schmort. ChatGPT ist ein Wissensverwalter, kein Wissensvermehrer. Wir brauchen aber dringend kluge Köpfe, die in der Lage sind, neues Wissen, neue, bisher noch nicht ausformulierte Lösungen für schwierige Fragen zu entwickeln, von denen es im Großen wie im Kleinen mehr als genug gibt. Mit dem Wiederkäuen der bisher bekannten Antworten ist es sicher nicht getan. Aber so etwas können nur Menschen, die selber denken können, die das jahrelang trainiert haben, sie müssen kreativ sein – denn das ist ChatGPT nicht. Und sie müssen davon überzeugt sein, dass der Mensch solche Fähigkeiten hat und daher den Maschinen letztlich überlegen ist – eine Überzeugung, die man Menschen systematisch austreiben kann, indem man sie in der Illusion wiegt, dass eine Maschine alle Fragen beantworten kann.

Wer heute behauptet, er hätte ein Patentrezept in der Tasche, mit dem man die sich anbahnende gewaltige Demotivation konterkarieren könne, ist vermutlich daran interessiert, Geld zu verdienen. Die Beispiele, die die von Ebbinghaus befragten engagierten Pädagogen gutwillig vorschlagen, kaschieren eher die fundamentale Gefährdung des ganzen Lernsystems als eine dauerhafte Lösung zu bieten. Nein, es erscheint mir immer noch besser, die Gefährdung, die von Apps wie ChatGPT ausgeht, realistisch durchzudenken, als sich mit netten Einzelprojekten zufriedenzugeben und im Übrigen den Kopf in den Sand zu stecken.

Die Idee der Aufklärung steht in Frage

In unserem Kulturkreis entwickelte sich die großartige Idee der Aufklärung. Ihr Leitprinzip fasste Kant in seiner berühmten Preisschrift zusammen: statt dem zu folgen, was uns Pfarrer, Bücher oder Ärzte sagen, soll jeder Mensch den Mut haben, selber zu denken. Aber was, wenn wir diesen Mut verlieren? In dem sehr eindringlichen Artikel Wer hat Angst vor ChatGPT (FAZ vom 19. April) gehen Christian Bermes und Andreas Dörpinghaus der Frage nach, was passiert, wenn „der Wunsch nach Unmündigkeit zum Normalfall“ wird.

Aufklärung bestand im Kern aus der Idee, dass jeder Kopf in der Lage ist bzw. durch Bildung in die Lage versetzt werden kann, selber Lösungen für Probleme aller Art zu finden. Nicht Priester, Schriftsteller oder Ärzte, sondern jeder einzelne Mensch sollte sich verantwortlich fühlen für die Gestaltung seiner und unserer gemeinsamen Zukunft. ChatGPT wird in vielen das Gefühl hervorrufen, dass jemand, der heute noch so denkt, sich der Lächerlichkeit preisgibt. Die App ist die Reinkarnation all der verschiedenen Autoritäten, die früher dem Menschen meist nicht ganz uneigennützig das Denken abnehmen wollten.

Das Ende des aufgeklärten Zeitalters ist oft ausgerufen worden – jetzt scheint es endgültig angebrochen zu sein. Aus Faulheit (in den Demokratien) oder aus Angst (in den autoritären Staaten) ordnen wir uns freiwillig oder unter Zwang dem unter, was der Große Bruder (Chinas KP) oder eben die ultrakomfortable ChatGPT uns als die Wahrheit vorgaukelt. Diese App hat für alle die Botschaft bereit, mit der jeder Autokrat heutzutage Mehrheiten organisiert: Vertraue nicht Dir, vertraue mir!

Wenn uns Hiroshima und Nagasaki lehrten, was atomare Verseuchung bedeutet, so werden wir in den nächsten Jahren immer deutlicher erleben, was digitale Verseuchung für Schäden anrichtet. Aber vermutlich wird uns die App dann erklären, warum das gar keine Schäden sind, denn im Moment dominieren immer noch die Beiträge von Zeitgenossen, die die App eher für eine Weiterentwicklung des Taschenrechners halten – und bekanntlich rekrutieren sich die Statements von ChatGPT aus der statistischen Auswertung bisher gegebener Antworten auf eine ihr gestellte Frage.

Gottfried Böhme, geboren 1951, war bis zum Jahr 1992 Lehrer in Baden-Württemberg, bis 1995 arbeitete er als Lehrer und Mentor im Dienst des sächsischen Kultusministeriums, bis zur Verrentung 2017 am Evangelischen Schulzentrum Leipzig. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Der gesteuerte Mensch? Digitalpakt Bildung – eine Kritik“.